Das Schicksal eines afghanischen Kindes

Dieser Eintrag stammt von Zahra Alkozai (1994)

Interview mit Herrn S. (*1987)


Herr S. wurde im Jahre 1987 in Kabul/ Afghanistan geboren und ist der älteste Sohn im Haus. Er lebte mit seinen Eltern, sowie zwei jüngeren Schwestern und einem jüngeren Bruder in einem Haus in Karte-Parwan, Kabul.

Im Vergleich zu den damaligen Verhältnissen in Afghanistan hat die Familie in normalen, guten Verhältnissen gelebt, d.h. sie hatten genug zu essen und zu trinken, sowie ein Dach über dem Kopf.

Bis zur Machtübernahme der Taliban im Jahre 1996 war der Vater von Herrn S. während der kommunistischen Regierung in Afghanistan Offizier des Geheimdienstes und gleichzeitig Mitglied der sozialistischen Partscham-Partei, die zu der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) zählte. Aufgrund seiner Tätigkeit beim Geheimdienst hatten die Taliban nach deren Machtübernahme großes Interesse an seinen Informationen. So haben sie den Vater von Herrn S. eines nachts vor das Haus gejagt, verhaftet, geschlagen und gefoltert.

Infolge der Folter erklärte sich der Vater zur Zusammenarbeit mit den Taliban bereit. Im Rahmen seiner Kollaboration (Zusammenarbeit mit dem Feind) mit den Taliban gab er unter anderem Informationen weiter, die letztlich zur Verhaftung und Ermordung von Angehörigen der damaligen Fahim-Gruppe geführt haben. Bei der Fahim-Gruppe handelt es sich um eine Gruppe, die mit dem derzeit amtierenden Verteidigungsminister Afghanistans, General Fahim, zusammenarbeitete.

Daraufhin sollte Herr S. für die Taten seines Vaters, also die Zusammenarbeit mit den Taliban, sowie Überlieferung von geheimen Informationen, die zur Ermordung einer Angehörigen der Fahim-Gruppe geführt hatte, bestraft werden. In Afghanistan herrscht Blutrache. Deshalb habe man versucht Herrn S. festzunehmen und ihn umzubringen, um sich an seinem Vater zu rächen. Um das Leben seines Sohnes zu retten, beschloss der Vater das Land zu verlassen. Sie verkauften ihr Haus und wanderten vorerst mit der ganzen Familie nach Pakistan aus.

Dort haben sie ca. zwei Monate bei einem Onkel in der Provinz Jalalabad, an der Grenze zur Provinz Torkham, gelebt. Jedoch besaßen sie keine Aufenthaltsgenehmigung für Pakistan. Da sie nicht genug Geld hatten und insofern eine konkrete Gefahr für das Leben von Herrn S. drohte, schickte der Vater nur seinen Sohn auf die Flucht. Der Vater hat mit einem Freund nach einem Schleuser gesucht, der sich mit Herrn S. auf die Reise machte. Dafür mussten sie 18 000 Dollar bezahlen.

Die anderen Familienmitglieder kehrten mit dem Vater zurück in die Hauptstadt Kabul. Dass die Schwestern sehr jung verheiratet werden mussten, ersparte dem Vater nicht die Verhaftung. In der Haftzeit wurde er mehrfach geschlagen und seine Fingern wurden ihm gebrochen. Lage Zeit gab es kein Lebenszeichen von Ihm. Die Mutter von Herrn S. wurde wiederholt mit einer Waffe bedroht.

Nachdem die gefälschten Dokumente von Herrn S. für die Schleusung fertig waren, flogen der Schleuser und Herr S. mit einer Maschine der pakistanischen PIA-Airline nach Dubai. Nach einem Zwischenstopp von ca. 21 Stunden flogen sie mit der Emirates Airline nach Deutschland. Diese Reise fand am 1. Juni 2003 statt.

Herr S. war damals 15 Jahre alt und wurde nach seiner Ankunft in Frankfurt am Main von in Deutschland lebenden Verwandten aufgenommen. Sie brachten ihn nach Berlin. In Berlin fand eine Anhörung mit Hilfe einer Dolmetscherin statt. Sein Antrag auf Asyl wurde jedoch abgelehnt. Herr S. bekam vorübergehend die Duldung und wurde in einer Notunterkunft für Asylbewerber untergebracht. Er lernte schnell viele Leute kennen und teilte sich mit einem Freund ein kleines Zimmer. Da er sehr jung war und die deutsche Sprache nicht beherrschte, bekam er eine Betreuerin. Er durfte einen Sprachkurs besuchen und wurde dann in die 9. Klasse aufgenommen. Mit der Hilfe seiner Betreuerin bekam er eine Wohnung. Jedoch durfte er Berlin nicht verlassen.

Herr S. beschreibt diese Phase seines Lebens als seine schlimmste Zeit. Er hatte nicht nur seine Familie und sein Heimatland, sondern auch einen Teil seiner Freiheit verloren. Er war sehr jung und fühlte sich alleingelassen, trotz gelegentlicher telefonischer Kontakte nach Afghanistan.

Im April 2004 wurde Herr S. aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall nicht fristgerechter Ausreise wurde ihm die Abschiebung in seinen Heimatland angedroht. Außerdem wurde er darauf hingewiesen, dass er in einem anderen Staat, in den er einreise, auch abgeschoben werden könne. Von 2003 bis 2006 musste Herr S. alle sechs Monate einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis stellen. Er hatte sich geweigert Deutschland zu verlassen, obwohl ihm während dieser Zeit dreimal mit der Abschiebung gedroht worden war. Herr S. hat einen Anwalt aufgesucht, der sich dafür einsetzte, dass Herr S. in Deutschland bleiben konnte.

Er heiratete deswegen 2006, nachdem er 18 Jahre alt geworden war, eine sehr gute Freundin, die die deutsche Staatsangehörigkeit besaß und bereit war ihm zu helfen. Eine andere Wahl hatte Herr S. nicht. Daraufhin hat er eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahren bekommen. Er erreichte seinen Realschulabschluss und durchlief eine vierjährige Tischlerausbildung. Ab 2007 besuchte er einmal im Jahr für zwei bis drei Wochen seine Familie in Afghanistan, die inzwischen wieder zusammengefunden hatte. Da Herr S. nach seiner Tischlerausbildung keinen Job in Berlin gefunden hatte, ist er 2011 nach Hamburg gezogen und arbeitete in einer Dienstleistungsfirma. Er hat es geschafft seine Eltern aus Afghanistan nach Deutschland einzuladen und ihnen aus der ärmlichen und lebensbedrohlichen Situationen herauszuhelfen.

Derzeit ist Herr S. dabei seinen Tischlermeister zu machen und lebt glücklich mit seinen Eltern in Hamburg. Jedoch hatte er sich das Leben in Deutschaland anders vorgestellt: ein schönes Leben mit viel Freude und Spaß. Stattdessen wurde er ins kalte Wasser geworfen, denn er wurde mit vielen Problemen und Schwierigkeiten konfrontiert - an Spaß war nicht zu denken. Er durfte anfangs nicht arbeiten und fühlte sich eine Zeit lang komplett isoliert. Heute ist er glücklich, dass er in Deutschland für sich schon Vieles erreicht hat und ein Leben frei von Bedrohung führen kann, was für ihn Afghanistan oder Pakistan nicht möglicher gewesen wäre.

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