Wie ich die Zeit Hitlers und die Flucht erlebte
Dieser Eintrag stammt von Celina Frieber (*1995)
Ergebnisse eines Interviews, das in der Nähe Hamburgs geführt wurde
Ich wurde 1929 in Osten Deutschlands geboren.
Mein leiblicher Vater ist F. K. und meine Mutter E. K. Mein Stiefvater heißt E. D. Ich habe drei jüngere Geschwister.
Meine Erinnerungen liegen in der Zeit, als ich ca. zehn Jahre alt war. Mein Vater schrieb uns von der Front aus immer Briefe, doch irgendwann, als die Soldaten in Stalingrad eingekesselt waren, kam kein Lebenszeichen mehr von ihm. Mir war klar, dass irgendetwas nicht stimmte.
Wir vermissten ihn, und dann wurde uns vom Kreisleiter mitgeteilt, dass er an der Front gefallen sei. An dem Tag ist meine Mutter zum ersten Mal zusammengebrochen. Von da an war ich diejenige, die sich um die drei jüngeren Geschwister gekümmert hat, denn meine Mutter war vor Trauer nicht mehr in der Lage dazu. Ich musste früh erwachsen werden und lernen, Dinge für meine Geschwister zu entscheiden. Schließlich musste ich sogar bei meiner Mutter im Ehebett schlafen. Ich habe natürlich auch gelitten, aber anders als meine Mutter. Ich habe es in mich hinein gefressen, denn ich hatte ja eine Verantwortung.
Ich erinnere mich sehr genau an die Schule. Jeden Morgen wenn ich zur Schule ging, sind die Soldaten zum Exerzierplatz marschiert. Wir sind immer mitgegangen im Gleichschritt mit Musik und Gesang, denn es gefiel uns. Wir kamen nie zu spät zur Schule. Mein Lehrer war ein überzeugter Nationalsozialist und jeden Morgen mussten wir den Hitlergruß machen.
Wehe, es wagte jemand, den Hitlergruß zu vergessen. Falls man es unterließ, wurde den Jungen in der Klasse schon mal mit dem Rohrstock auf die Fingerspitzen geschlagen und den Mädchen an den Zöpfen gezogen. Ich war keine von den Nazis, aber man musste so tun, als gehöre man dazu. Mit jemandem darüber reden, was man wirklich dachte, war nicht möglich, denn man wusste nicht, wem man vertrauen konnte. Grundsätzlich gab es kaum eine Möglichkeit zu reden, denn alle sagten "Der Feind hört mit". Dieser Satz hing auf Plakaten bedruckt überall in unserer Stadt.
Nun zurück zu der Zeit, als mein Vater starb. Ich ging, wie jeden Morgen, in die Schule, doch heute sangen wir ein Lied. Das Lied hieß "Ich hatte einen Kameraden", aber ich weiß nicht, warum wir es für einen Jungen aus meiner Klasse gesungen haben. Aber in diesem Lied gab es Zeilen, die mich traurig gemacht haben, da ich an meinen gerade verstorbenen Vater denken musste. Ich fing an zu weinen und konnte einfach nicht aufhören. Da merkte ich, dass mein sonst so strenger Lehrer doch noch ein Herz hatte. Er fragte: "Marjellchen, was ist denn los?" "Marjellchen" benutzen die Ostpreußen für Mädchen, wie in Norddeutschland "mien Deern". Ich erzählte ihm, was passiert war, daraufhin schickte er mich nach Hause.
Ich merkte, dass Läden in meiner Stadt geschlossen hatten und dass unsere Nachbarn nicht mehr dort wohnten. Sie waren Juden. Die Juden waren tolle und ehrliche Geschäftsleute, besser als die Deutschen. Sie hatten ihre Geschäfte so auf Zack. Alle dachten, dass die Juden umgesiedelt worden wären, aber dass sie ins Konzentrationslager gekommen waren, davon wusste ich damals nichts. In der Schule wurde davon nie etwas erwähnt. Vielleicht war ich auch einfach zu jung, um es zu begreifen.
In meiner Stadt gab es drei Kasernen, wo Soldaten innerhalb von sechs Wochen ausgebildet wurden. Wir hatten sogar ein Gefangenenlager in der Stadt. Dort waren Franzosen gefangen. Außen herum war überall Stacheldraht. Zwischen einer deutschen Frau und einem gefangenen Franzosen hatte sich eine Liebesbeziehung entwickelt. Sie küssten sich wahrscheinlich durch den Drahtzaun, wenn die Wache nicht hinsah. Aber jemand verriet die beiden und sie wurden hingerichtet. Das hat mich sehr geprägt.
Die Flucht
(Ein Jahr, 1945, bevor ich fliehen musste, sagten die Ostpreußen: "Nächstes Jahr seid ihr dran!", ich glaubte nicht daran. Doch der Tag war nun gekommen. Die Russen waren auf dem Vormarsch.)
Meine kleine Schwester, die damals erst zwei Jahre alt war, war ein uneheliches Kind. Sie war also meine Halbschwester, denn meine Mutter hatte kurze Zeit einen anderen Mann, während mein Vater an der Front war. Aber darüber sprach man nicht. Der Vater meiner Schwester kam an jenem Tag zu uns, als ich zwölf war und warnte uns. Wir sollten sofort unsere Sachen packen und fliehen. Ihm haben wir wohl heute unser Leben zu verdanken. Es ging alles ganz schnell. Wir hatten einen wasserdichten Seesack, in dem unsere Bettwäsche war, einen Koffer mit unseren Dokumenten, einen Schlitten, auf dem wir den Seesack legten, und die Kinderkarre für meine Geschwister. Wir zogen uns so viel Kleidung an, wie wir konnten, weil es draußen sehr kalt war. Meine Mutter sagte mir, ich solle den Karren schieben und sie zöge den Schlitten. Ich nahm meine Geschwister und wir fuhren zum Bahnhof. Dort ließ uns meine Mutter stehen, denn sie musste uns Sitzplatzkarten besorgen.
Ich stand also da und kümmerte mich um meine Geschwister. Dabei achtete ich überhaupt nicht auf unsere Koffer. In einem Koffer waren alle Dokumente unserer Familie. Als meine Mutter wieder zurückkam, fragte sie mich, wo dieser Koffer sei und ich konnte es ihr nicht beantworten. Er war geklaut worden. Wir versammelten uns nun alle auf dem Platz. Dort war es kalt und meine Schwester fing an zu weinen. Wir nahmen sie auf den Arm und gingen ein wenig mit ihr herum. Ich war doppelt so breit wie normal, da ich so viel Kleidung anhatte. Wir fuhren mit dem letzten D-Zug nach Danzig. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass wir unsere Heimat nun endgültig verließen. Es waren sehr viele Menschen im Zug. Wir mussten uns eingeengt mit den Taschen im Arm auf den Boden setzen. Die Fahrt dauerte nicht allzu lange, aber wir hatten nichts zu essen oder zu trinken, da unser Gepäck in einem anderen Waggon eingeladen war.
Wir mussten zwischendurch in Riesenburg in einem Wald anhalten, denn dort konnten uns die Tiefflieger nicht sehen. Auf einem gegenüberliegenden Gleis sahen wir einen Rote-Kreuz-Zug mit verletzen Soldaten, den man dadurch erkannte, dass sich auf dem Dach das Rote Kreuz befand. Neben dem Zug waren jeweils rechts und links Vierlingsflaks. Aus diesem Grund dachten wir uns, dass dieser Zug bestimmt nicht beschossen wird, weil er so gesichert war. Also machten meine Schwester und ich uns auf den Weg durch den hohen Schnee zu dem Zug, denn wir hatten Hunger. Dort lagen die verletzten Soldaten in vielen Etagenbetten übereinander. Es war schön warm und die Frauen gaben uns etwas Schokolade, Brötchen und eine Kanne Milch für meine kleineren Geschwister. Sie sagten uns, wir sollten uns, falls die Tiefflieger auf uns schießen, hinlegen, damit wir aussehen wie Steine. Genau dies passierte und wir warfen uns auf den eiskalten Boden. Die Milchkanne fiel um und lief aus.
Als Ruhe war, liefen meine Schwester und ich wieder zurück zu unserem Zug. Dann ging es weiter nach Danzig. Dort kamen wir bei einem Bäcker unter. Eines Tages kam ein Marsch durch unsere Straße. Meine Mutter bat mich, zur Straße zu gehen und meinen Opa zu rufen. Mein Opa war damals Soldat beim Volkssturm, sozusagen die letzte Reserve. Das waren Soldaten, die älter waren oder behindert. Hitler setzte sie ein, weil er unbedingt den Krieg gewinnen wollte, den er nun einmal nicht gewinnen konnte. Ich stand also an der Straße und sah die Soldaten an mir vorbeimarschieren. Mein Opa sah mich. Er war aufgebracht und fragte, was wir hier noch machten. Wir sollten weiter fliehen, denn die Brücke, die über die Weichsel ging, solle gesprengt werden, um den Weg für die Russen nach Deutschland zu unterbinden und dann wären wir hier gefangen. Wir packten innerhalb kürzester Zeit unsere Sachen. Mein Opa sah einen Zug. Er brachte uns dorthin. Der Zug war für Pferde gedacht. Die Pferde wurden ausgeladen und wir mussten in den Zug rein, wo die Pferde vorher waren. Es stank sehr.
Auf der einen Seite saßen meine Familie und ich und die andere Seite des Waggons haben wir als Toilette benutzt. Wir waren froh, als der Zug stoppte und wir in Gotenhafen aussteigen konnten. Wir gingen zum Hafen, von dem die Flüchtlingsschiffe losfuhren. Dort angekommen, sahen wir vier Reihen von Flüchtlingen, die alle auf das Schiff wollten. Ich wusste, dass niemals alle dieser auf Rettung hoffenden Menschen auf dieses Schiff passen würden, ich hoffte nur, dass wir noch hinaufkämen. Meine Mutter musste eine Adresse angeben, falls das Schiff unterginge, damit ein Verwandter benachrichtigt werden könne. Sie hat Tante Martha, ihre Schwester aus Berlin, angegeben.
Wir kamen trotz des Gedrängels endlich aufs Schiff. Das Schiff war überladen. Aufs Schiff durften wir nur unsere Klamotten, die wir trugen, und den Seesack mitnehmen. Eigentlich war das Schiff ein Vergnügungsschiff namens "Donau" von der Flotte "Kraft durch Freude". Es gab sogar einen Tanzsaal und ein Schwimmbecken. Ich weiß nicht, was mit den anderen passierte, die nicht mehr hinaufkamen. Aber ich vermute, dass ihre einzige Chance war, um zu überleben, sich zu verstecken. Jeder dieser Menschen auf dem Schiff, dachte nur an sich und sein eigenes überleben. Auf dem Schiff gab es nur Frauen mit ihren Kindern und verletzte Soldaten. Das Schiff hatte fünf Decks. Meine Mutter, meine Geschwister und ich bekamen eine Kabine im untersten Deck. Wir hörten sogar, als das Schiff auf der Ostsee anhielt. Ich malte mir immer schon vorher aus, was passieren könnte, um vorbereitet zu sein. Mir war klar, wenn dieses Schiff sinkt, dann würden wir am schnellsten ertrinken.
Die Menschen waren auf den Treppen und es musste sogar ein Weg zur Toilette freigemacht werden. Der Kapitän vermittelte uns über die Lautsprecher alle Notfallsignale und was wir, wenn wir eines der Signale hörten, zu tun hätten. Zum Beispiel gab es ein Signal, an dem alle von Deck mussten. Auf dem Deck hatte man die einzige Möglichkeit, einmal an die Luft zu kommen. Ich war oft dort oben. Es gab ein Signal, bei dem niemand sich bewegen oder sonstigen Lärm erzeugen durfte, denn die Unterseeboote hatten Horchrohre und wussten somit genau, wo wir uns aufhielten. Einmal kam die Durchsage: "Alle Mann unter Deck, Tiefflieger im Anflug". Anschließend wurde das ganze Licht an Bord auf minimal geschaltet, damit die Tiefflieger uns von oben nicht sehen konnten.
An den ersten vier Tagen bekamen wir im Restaurant etwas zu essen, doch an den letzten drei Tagen mussten wir ohne Trinken und Essen auskommen, denn es gab nichts mehr und die Versorgungsschiffe kamen nicht zu uns durch. Der große Hunger fing an. Eine meiner Schwestern heulte viel, denn sie hatte Hunger. Sie ging sogar oben an Deck und sammelte aus dem alten Brot sich die besten Stücke heraus. Das Brot durfte man natürlich eigentlich gar nicht mehr essen, aber es war ihr egal.
Noch dazu wurden zwei Kinder an Bord geboren und wir hatten ja gar keine Sachen mehr, aber wir haben ihnen trotzdem etwas von dem, was wir von meiner Schwester noch hatten, gegeben. Die Frauen hatten nichts mit, weil sie gerade mal im achten Monat waren und nicht mit der Geburt gerechnet hatten. Es verbreitete sich eine Krankheit an Bord, so dass wir unsere Toilette nicht mehr benutzen durften. Ich erinnere mich nicht, welche Krankheit es war, aber damals wusste natürlich niemand, wie man diese bekämpft. Eine Frau starb daran. Ihre Familie durfte Abschied von ihr nehmen und dann wurde sie im Seesack von Bord ins Meer gelassen. Das Personal ging nur noch mit Handschuhen und Mundschutz auf die Toilette, vermutlich haben sie sich trotzdem angesteckt.
Die Fahrt dauerte eine Woche, obwohl man für diese Strecke nach Lübeck eigentlich nur einen Tag und eine Nacht braucht. Während der Fahrt haben uns russische Unterseebote verfolgt. Wir standen mehr, als das wir fuhren. Ich bin seekrank geworden und werde es bei Schiffsreisen immer noch.
Auf unserer Fahrt auf der Ostsee hat uns die "Wilhelm Gustloff" überholt. Wir konnten aus weiter Ferne sehen, wie sie nach einem Beschuss untergegangen ist. Das zu sehen, war mit das Schlimmste für mich und ich werde es nie vergessen.
Bevor wir an Land kamen erklärte der Kapitän uns, dass überall Wasserminen gelegt wurden und wir deshalb andere Wege während unserer Flucht nehmen müssten. Wir haben unwahrscheinliches Glück gehabt, dass wir heil angekommen sind.
Als wir von Bord gingen, standen dort vier Rote-Kreuz-Schwestern, die sich um meine Mutter gekümmert haben. Wir bekamen Essen und Trinken und wurden wunderbar versorgt. Meine Mutter und Edelgard holten mit dem Schlitten unseren Seesack, denn es war immer noch Winter. Gegenüber war eine Kandis-Fabrik. Meine Schwester war so ausgehungert, dass sie sich auf die Arbeiter in der Fabrik gestürzt hat und ihnen den Zucker aus der Hand gerissen hat. Sie stopfte es in ihren Mund. Das werde ich nie vergessen.
Wir standen nun auf dem Bahnhof und es kam wieder eine Durchsage: "Wo wollt ihr hin, ihr Flüchtlinge? Wollt ihr in Holstein bleiben oder wollt ihr ins Rheinland?" Meine Mutter überließ mal wieder mir die Entscheidung, aber ich sagte, dass ich keinen Schritt mehr weiterreisen könne und hier bleiben wolle. So sind wir in Holstein geblieben.
Ein Mann ging mit einem Zettel herum, auf dem wir angeben mussten, wohin wir wollten. Wir fuhren mit dem Zug nach Bargteheide. Es war mittlerweile Nacht, als wir in Bargteheide ankamen. Dort standen schon Bauern mit Pferd und Wagen, um uns einzusammeln. Wir wohnten nun bei Bauer G., dem reichsten Bauer in D.. Der Bauer hatte auch Gefangene, Polen und Franzosen, die für ihn arbeiteten.
Wir mussten durch den Stall gehen, um zu unserem Zimmer zu gelangen, denn durch die Wohnung des Bauern durften wir nicht gehen. Wir hatten nur ein einziges Zimmer für uns alle zusammen.
Die Engländer marschierten mit ihren Panzern durch D. und der Bauernhof von Bauer G. wurde als Offiziersheim beschlagnahmt. Deshalb mussten wir ausziehen und gingen in das einzige Geschäft, es lag in D. an der Hauptstraße. Dort kamen wir auf dem Dachboden unter. Die Engländer feierten nun ihre Siegesfeier und haben im betrunkenen Zustand eine Frau aus dem Dorf vergewaltigt, denn sie waren jetzt ja die Herren und wir waren die Verlierer. Die Soldaten, ich weiß nicht, ob es einer oder mehrere waren, wurden nicht einmal verurteilt.
E. D. kam, als der Krieg zu Ende war, wieder nach Hause. Seine Schwester hat solange gebettelt, dass meine Mutter den Junggesellen geheiratet hat. Ich sagte zu meiner Mutter: "Ich habe ja nichts dagegen, dass du als junge Witwe noch einmal heiratest, aber warum gerade den Junggesellen?" Sie sagte nur: "Damit ich euch vier Kinder satt kriege, der ist bei Bauer U. Deputat-Arbeiter. Dann haben wir unser Schwein, unsere Eier und da kriegen wir unser Mehl."
E. D. wurde für uns alle irgendwann ein Vaterersatz und hat uns vier Kinder liebevoll erzogen.
Heute bin ich 82 Jahre alt und lebe in A.. Mein Mann ist vor einigen Jahren verstorben. Ich habe vier Kinder, davon zwei leibliche.
Meine Eltern und Großeltern sind mittlerweile ebenfalls verstorben. Meine Geschwister können sich nicht an die Zeit, von der ich berichtet habe, erinnern. Ich wäre gerne einmal wieder in meine Heimat nach Ostdeutschland zurückgekehrt, aber aus gesundheitlichen Gründen wird mir dies nicht mehr möglich sein und nur ein Traum bleiben.