Krieg- und Nachkriegszeit - aus der Sicht eines Kindes
Das Interview wurde von Celina Höricke am 20. August 2017 geführt.
Wie hast du als Kind die Kriegs- und Nachkriegszeit erlebt?
1943 haben wir oft gesehen wie die Gefangenen zur Arbeit gebracht wurden, immer vier in einer Reihe. Sie mussten dann einmal quer durch das Dorf. Mein Vater hatte zu der Zeit noch seine Bäckerei und sein Kolonialwarengeschäft. Und da habe ich mich dann mit fünf bis sechs Jahren an die Straße gestellt und wollte den Gefangenen Brötchen geben, aber die durften und konnten sie wegen den Wachen nicht annehmen. Nur ganz wenige haben eins genommen, weil die so einen Hunger hatten. Wir wussten gar nicht, was mit denen passiert. Wir dachten immer, dass es Kriegsgefangene sind. In der Kriegszeit haben für uns auch Italiener, Serben, Franzosen und Russen gearbeitet. Die waren alle sehr fleißig und haben von uns gut zu essen bekommen. Wir haben auch noch Bilder, wo die auf den Schweinen geritten sind.
Im Herbst 1944/1945 kamen schon die ersten Flüchtlinge. Wir waren in Schwarmitz, als sie mit ihren Pferdewagen ankamen, weil die Russen schon 1944 in Ostpreußen einmarschiert sind. Die Flüchtlinge haben bei uns im Hof übernachtet und bei uns gegessen. Am nächsten Tag sind sie weitergezogen, weil sie Richtung Westen wollten. Mein Vater hatte damals seine eigene Bäckerei. Wir sind dann nach Sawade geflüchtet (andere Oder-Seite), dorthin wo mein Opa wohnte. Wir sind mit den Pferdewagen und Leiterwagen bis nach Wittenau hinter Grünberg geflüchtet und dort wussten meine Eltern nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Also sind wir wieder zurückgegangen, weil es egal war, was kommt – so dachte meine Familie. Mein Vater wollte wieder in sein Geschäft, aber da waren die Russen schon in der Stadt und in unserer Bäckerei. Die Russen haben viele alte Männer, die nicht im Krieg waren, zusammengetrieben und erschossen. Wir wollten wieder zurück zu den Großeltern, haben aber dann gesehen, dass die Menschen schon aus ihren Häusern vertrieben worden waren. Sie durften nur Handgebäck mitnehmen. In Eichwalde haben wir dann gesehen, wie die ersten Panzer ankamen. Nicht alle Panzer kamen über die Oder, weil deutsche Flugzeuge die Oderbrücke zerstört haben. Sieben Panzer waren schon drüben sind aber nicht weitergefahren, weil die anderen nicht nachkamen. Sie sind dann in Deckung gegangen. Dann sind deutsche Soldaten gekommen und haben einen Panzer in den Ort Sawade gebracht und haben ihn dort hingestellt. Als kleiner Junge bin ich auf dem Panzer immer herumgeturnt.
Anfang März haben die Russen dann Hilfsbrücken gebaut, damit die Panzer wieder über die Oder kommen. Als die Russen dann drüben waren, haben sie massenhaft Leute erschossen und Frauen vergewaltigt. Das waren aber erst die Stoßtruppen. Die anderen russischen Soldaten sind bei meinem Opa in Sawade auf den Hof gefahren, um dort ihre Quartiere aufzuschlagen. Das Militär ist in die Stadt nach Grünberg gefahren. So waren wir geschützt vor den anderen, weil die Russen direkt bei uns gewohnt und gegessen haben. Nachts haben die Russen geklaut und in anderen Siedlungen das Vieh eingezogen. Meine Mutter und meine Oma haben für sie Essen gekocht. Einmal hat ein Russe aus versehen ein Loch in die Decke geschossen, als er bei uns am Tisch saß und seine Maschinenpistole sauber gemacht hatte. Da machte ihn der Offizier ganz schön „zur Schnecke“, weil er ja auch einen Kollegen hätte treffen können. Als die Russen dann weitergezogen sind, haben sie die ganzen Orte evakuiert, zur Not auch mit Gewalt. Wir sind dann mit dem letzten Schlepperkahn über die Oder geflüchtet und so kamen wir dann in die DDR.
Wie sah eure Flucht aus?
Ich bin in Schlesien, in Schwarmitz Landkreis Grünberg mit knapp fünf Jahren eingeschult worden, das war noch in der Kriegszeit. 1945, nach dem Kriegsende, bin ich dann noch in die zweite Klasse versetzt worden. Dann kam die Flucht, weil die Russen vordrangen. Dadurch sind wir nicht mehr zur Schule gegangen. Wir haben dann praktisch die Flucht genutzt und sind über die Oder mit einem Oderkahn, einem großen Schleppzug, geflohen. Dann sind wir mit dem letzten Zug bis nach Lossow mitgefahren, das war schon die DDR. Danach sind wir vor Frankfurt an der Oder an Land gegangen. Dort haben wir erst erfahren, wo die Großeltern abgeblieben sind und hatten herausgefunden, dass sie in Cottbus gelandet waren. Also nahmen wir Kontakt zu ihnen auf und sind dann zu Fuß mit einem Handwagen und einem Koffer von Lossow bis nach Peitz gewandert. Am 14. Oktober 1945 haben wir, am Geburtstag meines Opas, die Großeltern in Friedrichshof gefunden, da, wo sie einquartiert waren. Da haben sich alle sehr gefreut, dass wir wieder zusammen waren. Im Winter hat sich mein Vater Gedanken gemacht, wo wir hinkönnten. Da hatte er rausgefunden, dass im Frühjahr in Gramzow Landkreis Uckermark große Güter, die damals Staatsgüter waren, an Siedler aufgeteilt wurden. Damit kam er dann wieder zurück zu uns und hat auch den Bekannten aus dem Dorf Bescheid gesagt. Im Frühjahr 1946 sind wir dann nach Gramzow gezogen. Wir wurden dann in Gramzow im goldenen Löwen einquartiert. Dort schliefen wir mit anderen Familien im Billardzimmer im Stroh. Später wurden wir einer Siedlung zugeteilt. Im Herbst bin ich dann wieder zur Schule gegangen. Allerdings habe ich durch die Flucht ein Jahr verloren und musste dann die Schule wieder ab der ersten Klasse anfangen. Nach der siebten Klasse bin ich abgegangen, weil ich das Alter dazu hatte.
Wie war deine damalige Alltags- und Familiensituation?
1943 wurde mein Vater eingezogen. Als mein Vater dann im Krieg war, ist bei uns zu Hause die Versorgung zusammengebrochen. Wir hatten keine Lebensmittel und kein Brot. Dann ist mein Vater „OK gestellt worden“. Das bedeutete, dass er nach Hause durfte, weil er dort gebraucht wurde.
Wenn wir als kleine Kinder draußen spielten, zum Beispiel an der Oder, haben wir schon von weitem die Toten gerochen. Wir sahen viele Leichen. Als Kinder haben wir gesehen, wie viele Flugzeuge nach Berlin geflogen sind. Der Himmel war voll mit Flugzeugen, bestimmt mehrere 100. Die hatten es auf die großen Städte abgesehen, nicht auf unser kleines Dorf. Da hatten wir Glück. Dann haben sie Berlin ausgebombt und viele Familien mussten zu uns aufs Land flüchten.
Hattest du ein besonderes oder prägendes Ereignis?
Bei den Großeltern auf dem Hof in Eichwaldau wollten die Russen meinen Vater erschießen. Sie wollten die Deichsel von unserem Pferdefuhrwerk haben, aber mein Vater wollte die nicht hergeben. Deshalb wollten sie ihn erschießen, aber ich habe mich vor ihm gestellt und die Arme hochgerissen. Da war ich sechs Jahre alt. Dann haben sie doch nicht geschossen und ich habe zu meinem Vater gesagt „Bloß schnell weg, lass sie doch!“ und dann sind wir weggerannt.