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Nachkriegszeit: Eine Zeitzeugin berichtet über ihre Kindheit

Dieses Interview hat geführt: Lea Alicia Wlodarczak

Porträt von Frau Ruth W.
Ruth W. als Kind vor Bohnenstangen

Wo hast du zur Nachkriegszeit gelebt und wie alt warst du?

Zur Nachkriegszeit bin ich in Deutschland/Harburg aufgewachsen. Wir lebten aufgrund einer Ausbombung zu fünft in einer Wohnung. Unsere Wohnung war sehr klein und wir hatten nur zwei Zimmer und eine Küche. Die Toilette befand sich unten im Keller. Im Jahre 1935 wurde ich geboren und der Krieg war 1945 zu Ende. Zu der Zeit war ich also zehn Jahre alt.

Hattest du oder deine Familie eine bestimmte Glaubensrichtung?

Früher war es üblich, einer Glaubensrichtung anzugehören. Meine Familie und ich gehörten der evangelischen Glaubensrichtung an. In der „Johanneskirche“ wurde ich getauft, die leider während des Krieges zerbombt wurde.

Hast du die ganze Zeit bei deiner leiblichen Familie gelebt oder wurdest du wie viele andere Kinder zu der Zeit von deiner Familie getrennt? Wie kam es genau dazu? Aus welchen Gründen wurdest du von deiner Familie getrennt?

Wir wurden von den Schulen aus evakuiert. Ich wurde bei der Familie Schuhmacker aufgenommen, die in Oldendorf bei Himmelpforten gelebt hatte. Die Familie hatte einen Bauernhof und ich durfte mit helfen, die Kühe zu melken und ich habe auch andere Arbeiten auf dem Hof verrichtet. Zum Ende des Krieges wurden die großen Städte wie Hamburg und Dresden stark bombardiert. Aus diesem Grund wurden die Kinder evakuiert.

Wie war das Verhältnis zu deiner leiblichen Familie und wie war das Verhältnis zu der Familie, die dich aufgenommen hat?

Die Familie Schuhmacker war sehr nett zu mir und hat mich liebevoll bei sich zu Hause aufgenommen. Die ersten drei Tage hatte ich starkes Heimweh zu meiner Mutter, danach wurde es immer besser.

Das Verhältnis war sehr gut zwischen uns. Die Frau nannte ich nach einer gewissen Zeit „Mutter Maria“. Der Sohn der Familie hieß Hermann, der für mich zu einem Bruder in dieser Zeit wurde. Bei dieser Familie hatte ich es sehr gut und habe mit der Oma in einem Zimmer geschlafen.

Das Verhältnis zu meiner leiblichen Familie war auch sehr gut. Meine Mutter hat mich sehr oft besucht, mein Vater war leider im Krieg. Auch nach dem Krieg hatte ich noch einige Zeit Kontakt zu meiner „Ersatzfamilie“.

Dein Vater befand sich im Krieg. Wie hast du es früher empfunden, dass er eventuell Menschen getötet haben könnte?

Ja mein Vater befand sich im Krieg in Frankreich. Mein Vater hat früher nicht über die Kriegszeit gesprochen, daher weiß ich nicht, ob er Menschen getötet hat ... Aber wenn mein Vater Fronturlaub hatte, hat er uns immer besucht und wir hatten Spaß zusammen.

Wurdest du jemals von einem Soldaten bedroht?

Wir Kinder wurden nie von den englischen Besatzungsmitgliedern bedroht, wir wurden freundlich begrüßt und haben auch mal eine Tafel Schokolade bekommen.

Wie hast du die Nachkriegszeit in Erinnerung?

Mein Opa hatte einen Garten, in dem er Gemüse und Tabak angebaut hat. Außerdem hatten wir Hühner und Kaninchen. Meine Oma hat Kohle zum Heizen geklaut.

Wir mussten Erlaubnisscheine zum Pflücken von Pilzen und Blaubeeren haben.

Während meiner Zeit in Oldendorf haben wir Kinder uns manchmal Äpfel und Birnen von Bäumen gepflückt.

Viele Straßen waren damals kaputt, durch die Bombardierung, so dass wir über Schotter zur Schule laufen mussten. Im Winter, wenn Schnee lag konnten wir zur Schule rutschen.

Wie hast du bzw. deine Familie vom Kriegsende erfahren und inwieweit kannst du dich noch an deine Gefühle dabei erinnern?

Nach einiger Zeit wurde ich von meiner Mutter aus Oldendorf abgeholt und wir sind wieder nach Hause gefahren. Wir mussten noch einige Wochen warten, bis mein Vater wieder nach Hause kam, aber als er dann da war, wusste ich einfach, dass der Krieg vorbei war.

Was bedeutete das Ende des Krieges für dich und deine Familie? Und wie ging es dann überhaupt weiter?

Als mein Vater wieder zu Hause war, fing er an, als Reifenmacher zu arbeiten. Oft habe ich ihm mit dem Fahrrad Essen zur Arbeit gebracht. Die Menschen haben Tauschgeschäfte gemacht und für mich ging es ganz normal weiter.

Kannst du dich an den Wiederaufbau erinnern?

Nicht detailliert. Ich kann mich noch daran erinnern, dass sehr viel aufgeräumt wurde.

Hast du noch Dokumente oder Bilder aus der Nachkriegszeit?

Nein, habe ich nicht.

Wie war die Stimmung zu dieser Zeit im Land? Kannst du dich an etwas Bestimmtes erinnern, was das Volk gemacht hat oder wie es sich verhalten hat?

Ich habe gespürt, dass die Stimmung im Land besser wurde. Die Menschen fingen an sich freier zu bewegen und haben sich über kleine Dinge wieder freuen können. Eine Angst habe ich nicht gespürt. Wir Kinder waren oft draußen und haben dort getobt.

Hattet ihr genügend Lebensmittel und wie konntet ihr euch versorgen?

Meine Familie musste nicht hungern. Wir hatten ein Feld, wo wir Lebensmittel angebaut haben und hatten Hühner sowie Kaninchen. Wir hatten Scheine, die uns erlaubt haben, Pilze und Blaubeeren zu pflücken.

Inwieweit waren die Menschen dazu bereit, sich gegenseitig zu helfen?

In meinem Umfeld haben die Menschen sich viel gegenseitig geholfen. So habe ich zum Beispiel von unseren Nachbarn eine Schultasche bekommen, da meine aus Pappe war und im Regen aufgeweicht ist. Häufig wurde auch Kleidung sowie Essen untereinander getauscht. Außerdem kann ich mich noch daran erinnern, dass uns die Engländer manchmal aus dem Zug etwas Süßes zugeworfen haben.

Inwieweit wurde dein Leben von dieser Zeit geprägt?

Früher hat die Familie sehr beieinander gehalten, wir haben gemeinsam gekocht oder Wäsche gewaschen, dass fehlt in der heutigen Zeit in einigen Familien.

Luxusgüter oder ähnliches waren früher nicht so gefragt wie heute. Ich habe gelernt, mit einfachen Mitteln zu leben.

Würdest du sagen, dass du trotzdem eine schöne Kindheit hattest?

Als Kinder haben wir trotz des Krieges sehr viel Spaß gehabt. Wir durften draußen spielen und herumtoben. Aber wir mussten immer angezogen ins Bett gehen und hatten immer einen Koffer in der Hand. Wenn Bombenalarm war, mussten wir schnell in einen Bunker fliehen. Diese Situationen waren sehr beängstigend, aber wir waren immer froh, wenn wir raus kamen und unser Haus noch stand.

Die Kinder und Jugendlichen sind heutzutage von interaktiven Spielen und dem Internet geprägt, sie spielen kaum noch draußen. Wie hast du deine Kindheit mit Spielen verbracht? Und wie habt ihr euch ohne Telefon verabredet und getroffen?

Als Kinder hatten wir nicht sehr viele Spielsachen, aber wir konnten uns mit einfachen Gegenständen beschäftigen. Oft waren wir draußen und haben “ticken“ oder “verstecken“ gespielt. Verabredet wurde sich in der Schule oder in der Nachbarschaft, wir haben ja alle dicht bei einander gewohnt. Später hatte mein Vater ein Tauschgeschäft gemacht und ich habe ein eigenes Fahrrad bekommen.

Während der Nachkriegszeit hast du die Schule besucht, wie hast du die Schule in Erinnerung? Hast du die Schule gern besucht?

Zur Schule bin ich gar nicht gern gegangen. Ich wollte sehr gern lernen, aber ich hatte leider eine Lehrerin, die nicht freundlich war. Als Kind hat mich das sehr verschreckt und ich habe mich in der Schule unwohl gefühlt.

Gab es Bücher mit denen ihr lernen konntet?

Ja, es gab Bücher. Allerdings mussten wir uns die Bücher zu viert teilen.

Kannst du dich daran erinnern, wie die Frauen zu der Zeit behandelt wurden?

Respektvoll. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass wir Kinder in der Straßenbahn aufgestanden sind, wenn Frauen herein kamen.

Mittlerweile ist die Arbeitslosenrate sehr hoch, kannst du dich daran erinnern, wie es damals war? Hatten die Menschen genügend Arbeitsplätze?

Die Arbeitslosenrate war damals sehr hoch. Meine Eltern waren zum Glück nicht direkt von der Arbeitslosigkeit betroffen, da sie nach dem Krieg schnell Arbeit gefunden haben.

Adolf Hitler hatte die Absicht, dass die Gesellschaft rein arisch sein sollte, alle Juden sollten „vernichtet“ werden. Hattest du zur Nachkriegszeit Kontakt zu jüdischen Familien? Würdest du sagen, Juden sind immer noch unwillkommen?

Durch meine Oma hatten wir während des Krieges Kontakt zu einer jüdischen Familie. Ich weiß noch, dass ich früher nicht darüber sprechen durfte. Meine Oma hatte der Familie oft Essen gegeben und die Familie war sehr nett. Irgendwann ist die Familie dann verschwunden und meine Oma hat nicht mehr darüber gesprochen.

Juden sind meiner Meinung nach nicht unwillkommen. Sie sind Menschen, wie du und ich. Es gibt verschiedene Glaubensrichtungen, ich kann es nicht nachvollziehen, dass einige Menschen Juden bzw. allgemein Menschen, die einer anderen Kultur angehören, “ausschließen“ wollen.

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